Auswirkungen der EU-Verkehrspolitik auf den ÖPNV
Dr.-Ing. Dierk Hans Hoefs
Mitglied des Vorstandes der Stadtwerke Oberhausen AG (D)
1. Vorbemerkung
Die Verkehrspolitik der Europäischen Union (EU) für den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV)
liegt noch nicht in allen Einzelheiten fest. Ihre Umrisse sind aber klar erkennbar. Nach dem Luftverkehr,
der Telekommunikation und der Energieversorgung wird der ÖPNV der vierte große Dienstleistungsmarkt sein,
bei dem Monopolstrukturen aufgebrochen werden und der Wettbewerb eingeführt wird (Abb. 1).
Europäische Vorgaben und nationale Gesetze haben die Rahmenbedingungen für den ÖPNV schon jetzt
verändert und damit die bisherige ÖPNV-Finanzierung in Frage gestellt: Die Liberalisierung der
Energiemärkte führt dazu, dass die Bruttogewinne der Versorgungsunternehmen zurückgehen. Damit
verliert der steuerliche Querverbund (Zusammenfassung von Gewinnen aus dem Energiegeschäft mit
Verlusten aus dem ÖPNV-Bereich) an Bedeutung. Die Entwicklung der EU-Gesetzgebung lässt zudem
erwarten, dass der steuerliche Querverbund in Zukunft als unzulässige Beihilfe überhaupt nicht
mehr möglich sein wird. Auch Eigentümereinlagen zur (formalen) Vermeidung von Verlusten werden
mit dem EU-Recht nicht kompatibel sein. Hinzu kommt, dass die äußerst angespannte Haushaltslage
viele Kommunen darüber nachdenken lässt, wie der Aufwand für den ÖPNV reduziert werden kann. Ein
weiteres, zumindest deutsches Problem sind die äußerst restriktiven Gemeindeordnungen (=Kommunalverfassungen),
die die wirtschaftliche Betätigung kommunaler Verkehrsunternehmen stark einengen (Abb. 2).
In Deutschland haben die kommunalen Verkehrsunternehmen zur Zeit einen Marktanteil von über 90 %.
Daher sollen die zu erwartenden Auswirkungen der EU-Verkehrspolitik und die daraus abzuleitenden
Marktstrategien am Beispiel der kommunalen Stadtwerke Oberhausen AG erläutert werden.
2. Ein kommunales Verkehrsunternehmen als Beispiel
Die Stadtwerke Oberhausen AG (STOAG) ist das Verkehrsunternehmen der Stadt Oberhausen
(rd. 220.000 Einwohner). Sie ist eingebunden in den Verkehrsverbund Rhein-Ruhr. Mit einem
Investitionsaufwand (ohne Fahrzeuge) von rd. 150 Mio EUR wurden die Voraussetzungen für
ein vollkommen neues ÖPNV-Netz geschaffen, das am 2. Juni 1996 seinen Betrieb aufnahm.
Rückgrat des Netzes ist eine vom Autoverkehr unabhängige höhenfreie ÖPNV-Trasse, die die
nördlichen und südlichen Stadtteile miteinander und mit der Neuen Mitte (100 ha großes
Einkaufs-, Gewerbe- und Freizeitzentrum) verknüpft und auf der Straßenbahn- und Schnellbuslinien
zu einem durchschnittlichen 90-Sekunden-Takt gebündelt werden. Die Betriebsleistung wurde um
46,1 % (Nw-km) bzw. um 69,2 % (Platz-km) gesteigert; die Takte wurden verdichtet; die Fahrzeugflotte
wurde grundlegend erneuert; der Straßenbahnbetrieb wurde nach 28 Jahren wieder eingeführt; und der
Kundendienst erhielt eine neue Qualität. Die Erfolge können sich sehen lassen: Die Fahrgastzahl
stieg von 24,5 Mio (1995) auf 37,1 Mio (2001), und der Modalsplitt verschob sich merklich zu Gunsten
des ÖPNV. Die Vorgabe der Stadt, dass das operative Betriebsdefizit der STOAG den Wert des Jahres
1993 real nicht übersteigen darf, wurde eingehalten; im Geschäftsjahr 2001 wurde dieser Plafond um
5,2 Mio EUR unterschritten. Der von der Stadt zu übernehmende Restfehlbetrag lag im letzten Jahr bei
-4,4 Mio EUR; das heißt, dass sogar ein Überschuss erwirtschaftet wurde. Der Kostendeckungsgrad konnte
auf 61,6 % (operatives Geschäft) bzw. 89,3 % (Verkehrsbereich insgesamt) gesteigert werden (Abb. 3).
Die Übersicht über das STOAG-Betriebsergebnis 2001 lässt einige Feststellungen zu, die
zumindest in ihrer Tendenz für die meisten kommunalen Verkehrsunternehmen in Deutschland gelten:
Die Personalkosten machen über 60 % des operativen Aufwandes aus.
Mit den operativen Erträgen können zwar die Personalkosten, nicht aber
die übrigen operativen Aufwendungen gedeckt werden.
Nach den Bestimmungen des deutschen Personenbeförderungsgesetzes werden
die Betriebsleistungen eigenwirtschaftlich erbracht. Fraglich ist allerdings,
ob die zur Zeit noch zulässigen nicht-operativen Verkehrserträge und die
Beteiligungserträge EU-rechtlich Bestand haben.
Trotz der unbestreitbaren verkehrlichen und verkehrspolitischen Erfolge hätte die STOAG
im Wettbewerb mit privaten Verkehrsunternehmen zur Zeit keine Chance. Dies liegt an den
sehr unterschiedlichen Randbedingungen, die für kommunale und für öffentliche Verkehrsunternehmen
in Deutschland gelten.
3. EU-Rechtsrahmen
Der ordnungspolitische Rahmen der Europäischen Union (EU) lässt sich durch die Stichworte Wirtschaftsfreiheit, Marktwirtschaft und unverfälschter Wettbewerb umschreiben. Schon Artikel 3a(1) des Vertrages über die europäische Gemeinschaft fordert unmissverständlich offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb.
Die neue EU-Verordnung, die die EU-Verordnung 1191/69 in der Fassung 1893/91 ablösen soll und deren überarbeiteter Entwurf von der EU-Kommission am 21. Februar 2001 vorgelegt wurde, will die Weichen in Richtung eines kontrollierten (nicht deregulierten) Wettbewerbs stellen. Monopolsituationen sollen abgebaut und damit eine größere Marktöffnung erreicht werden. Der EU-Kommission geht es um einen moderneren und effizienteren ÖPNV in hoher Qualität und nicht um eine Kostenreduktion um jeden Preis. Insgesamt soll der ÖPNV gegenüber dem Individualverkehr gestärkt werden.
Der Entwurf der neuen EU-Verordnung ist nicht nur eine konsequente Ableitung aus den Grundsätzen der europäischen Wirtschaftspolitik, wie sie im EG-Vertrag festgelegt sind. Er folgt auch dem "Zeitgeist". Unabhängig vom zunehmenden (politischen) Druck der privaten Verkehrsunternehmen, stößt die Forderung nach Wettbewerb auf weitgehende Zustimmung in der Öffentlichkeit. Hinzu kommt, dass die Schwäche der öffentlichen Haushalte viele Kommunen darüber nachdenken lässt, wie der ÖPNV, der unstrittig Teil der Daseinsfürsorge ist, kostengünstiger gestaltet werden kann.
In Deutschland gibt es sehr unterschiedliche Positionen zum Entwurf der EU-Verordnung für den ÖPNV. Während die hessische Landesregierung für eine konsequente Umsetzung des Besteller-Ersteller-Prinzips ist und keine Ausnahmen vom Wettbewerb zulassen will, plädieren die Kommunen mit eigenen Verkehrsunternehmen dafür, dass die EU-Gesetzgebung die Möglichkeit lässt, vor Ort zu entscheiden, ob Verkehrsleistungen ausgeschrieben oder direkt vergeben werden.
Allgemein geht man davon aus, dass die abschließende Entscheidung über die neue EU-Verordnung im ersten Halbjahr 2003 fallen wird. Nach einer Übergangszeit von sehr wahrscheinlich 5 Jahren wird die Verordnung dann als unmittelbares Recht uneingeschränkt gelten.
Aus heutiger Sicht zeichnen sich folgende Eckpunkte der endgültigen EU-Regelung ab:
Zwischen Besteller und Ersteller von Verkehrsleistungen muss strikt getrennt werden.
Der Grundsatz des geregelten Wettbewerbs wird festgeschrieben.
Es wird keine (Dauer-)Ausnahmen von der Ausschreibungspflicht geben.
Es wird keinen "Big Bang" geben; d.h., dass die jetzigen Konzessionen auslaufen können.
Die Laufzeit von neuen Verträgen bzw. Genehmigungen wird 8 Jahre (Bus) bzw. 15 Jahre (Bahnen) betragen.
Durch besondere Regelungen soll der Entwicklung von Oligopolen vorgebeugt werden.
Ein besonderer Schutz der Arbeitnehmer beim Verlust von Verkehrsleistungen wird festgeschrieben.
4. Sonderprobleme der kommunalen Verkehrsunternehmen
Gegenüber den privaten Unternehmen haben die öffentlichen Verkehrsunternehmen zur Zeit entscheidende Wettbewerbsnachteile: Es bestehen unterschiedliche Lohntarife; die Löhne der privaten Verkehrsunternehmen liegen um rd. 30 % unter denen der öffentlichen Verkehrsunternehmen. Die Fesseln des öffentlichen Dienstrechts schaffen zusätzliche Nachteile gegenüber den privaten Verkehrsunternehmen. Aufgrund ihrer besonderen Sozialverpflichtung haben die öffentlichen Verkehrsunternehmen Betriebsvereinbarungen mit zum Teil erheblichen finanziellen Auswirkungen abgeschlossen. Die Krankenquote bei den öffentlichen Verkehrsunternehmen ist wesentlich höher als bei den privaten Unternehmen, bei denen man sich leichter von unzuverlässigen Mitarbeitern trennen kann. Hinzu kommt ein Größenproblem: Der Umsatz und damit die Marktstärke der auf den EU-Verkehrsmarkt drängenden internationalen Unternehmen liegen um ein Vielfaches über den Werten der kommunalen Unternehmen (Abb. 4).
>5. Strategien für den Wettbewerb
Im zukünftigen Wettbewerb um Verkehrsleistungen in Deutschland werden sich kommunale Verkehrsunternehmen, die zur Zeit einen Marktanteil von über 90% haben, und internationale Verkehrsunternehmen gegenüberstehen. Die öffentlichen Verkehrsunternehmen werden sich entweder alleine oder in enger Kooperation mit anderen Verkehrsunternehmen oder nach Fusion in größeren Einheiten dem Wettbewerb stellen. Sie können den Wettbewerb allerdings nur dann gewinnen, wenn für sie die gleichen Randbedingungen gelten wie für die privaten Unternehmen.
Um auf den Wettbewerbsmarkt bestehen zu können, müssen sich die öffentlichen Verkehrsunternehmen restrukturieren. Restrukturierung heißt, dass Sanierungs- und Umstrukturierungsmaßnahmen entwickelt und umgesetzt werden, die das Ziel haben, dass das Gesamtunternehmen bzw. der Unternehmensteil, der sich in Zukunft dem Wettbewerb stellen muss, marktfähig wird. Die bloße Zurücknahme von (Teil-)Leistungen, die sich nicht rechnen, würde zwar das wirtschaftliche Ergebnis verbessern, nicht aber zur Restrukturierung beitragen.
Folgende Restrukturierungsansätze sind denkbar:
Personalkosten
In Nordrhein-Westfalen haben sich die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes und der Kommunale Arbeitgeberverband
Betriebsvereinbarungen
In Tarifverhandlungen beklagen sich die Gewerkschaften mit Recht darüber, dass von ihnen verlangt wird, das Lohnniveau im ÖPNV abzusenken, während die Arbeitgeber es nicht wagen, die zum Teil üppigen Betriebsvereinbarungen ("Speck") abzubauen. Dieser Vorwurf ist berechtigt. Die Kündigung von nicht mehr zeitgemäßen kostenintensiven Betriebsvereinbarungen ist nicht nur ein Akt der Fairness gegenüber den Gewerkschaften; sie ist ein Signal an die Mitarbeiter, dass auch von ihnen ein Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens und damit zum Erhalt der Arbeitsplätze geleistet werden muss.
Verlagerung von Leistungen
Solange die Arbeitseffektivität bei den öffentlichen Verkehrsunternehmen geringer ist als bei den privaten Verkehrsunternehmen, muss über die Verlagerung von Leistungen insbesondere im Fahrdienst nachgedacht werden. In Frage kommen Fremdvergabe, Tochterlösungen und Kooperationen. Jeder dieser Lösungsansätze führt dazu, dass die Verkehrsleistung kostengünstiger erbracht wird.
Neue Geschäftsfelder
Die Gemeindeordnungen der Länder lassen den kommunalen Verkehrsunternehmen nur wenig Spielraum, ihre Geschäftsfelder zu erweitern bzw. neue Geschäftsfelder zu besetzen. Auch ohne diese "Fesseln" erfordert jedes Nachdenken über neue Geschäftsfelder eine eingehende Risikoanalyse.
Rationalisierung
Vor dem Hintergrund des Zwangs zur Optimierung der Wirtschaftlichkeit und damit der Arbeitseffektivität müssen alle Geschäftsbereiche ständig auf Rationalisierungsmöglichkeiten hin überprüft werden. Für die Kernprozesse muss ein strenges Kostenmanagement entwickelt werden. Ziel muss eine kostenoptimale Gestaltung aller Management-, Steuerungs- und Serviceprozesse sein.
Welcher Weg auch immer beschritten wird, Grundvoraussetzung ist, dass zwischen Eigentümer (Kommune), Aufsichtsrat, Geschäftsleitung, Betriebsrat und Belegschaft ein Konsens über die Unternehmenspolitik erreicht wird. Wenn die Akteure nicht an einem Strang ziehen, kann die Restrukturierung nicht gelingen.
6. Konzept der STOAG
Die STOAG verfolgt vier Hauptziele:
Erreichung der Markt- bzw. Wettbewerbsfähigkeit,
damit Erhalt der STOAG als Instrument der kommunalen Verkehrspolitik,
Sicherung der Leistungsqualität des ÖPNV und
Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen.
Um diese Ziele zu erreichen, wurden und werden folgende Maßnahmen ergriffen:
(1) Optimierung der Geschäftsprozesse / Restrukturierung
Es handelt sich um einen ständigen Prozess, der u.a. dazu geführt hat, dass das Betriebsergebnis der STOAG von Jahr zu Jahr verbessert werden konnte.
(2) Einführung eines neuen Lohntarifvertrags (Spartentarifvertrag)
Der neue Spartentarifvertrag ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass zumindest mittelfristig die Lohnkosten der kommunalen und der öffentlichen Verkehrsunternehmen angeglichen werden können.
(3) Gründung einer (Tochter-)Gesellschaft für das operative Geschäft
Da auch nach Einführung des neuen Spartentarifvertrags wegen der Ansprüche der Altbelegschaft die öffentlichen Verkehrsunternehmen höhere Lohnkosten haben werden als die privaten Verkehrsunternehmen, wird die STOAG mit zwei Nachbarbetrieben eine gemeinsame Fahrbetriebsgesellschaft gründen. Die Altgesellschaften werden ihr Fahrpersonal der Betriebsgesellschaft zu Marktkonditionen zu Verfügung stellen. Hierdurch wird die Fahrbetriebsgesellschaft in die Lage versetzt, erfolgreich im Wettbewerb zu agieren (Abb 5).
(4) Verstärkte Kooperation
Über die gemeinsame Fahrbetriebsgesellschaft hinaus soll die Kooperation mit den Nachbarverkehrsbetrieben verstärkt werden. Allerdings soll auf Fusionen verzichtet werden, weil sie dazu führen würden, dass der räumliche Bezug von Unternehmensentscheidungen und der räumliche Bezug von kommunalen Entscheidungen nicht mehr kongruent sind.
7. Schlussbemerkung
Die Rahmenbedingungen für den öffentlichen Personennahverkehr ändern sich. Die neue EU-Verordnung wird die zur Zeit noch weitgehend geschlossenen ÖPNV-Märkte in kontrollierte Wettbewerbsmärkte überführen. Im zukünftigen Wettbewerb haben nur die Unternehmen eine Chance, die die geforderten Verkehrsleistungen in hoher Qualität und zu einem marktfähigen Preis erbringen können.
Die kommunalen Verkehrsunternehmen können im Wettbewerb bestehen, wenn für sie die gleichen Rahmenbedingungen gelten wie für die privaten Verkehrsunternehmen. Hierzu zählen u. a. gleiche Lohntarife und keine Fesseln durch die Gemeindeordnung (Kommunalverfassung).
Wichtig ist auch, dass vor Wettbewerbsbeginn die Rollenverteilung zwischen der Bestellerebene (Kommune bzw. Zweckverband), der Regieebene (Managementgesellschaft) und der Betreiberebene (Betriebsgesellschaft) eindeutig definiert wird.
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