Internationales Verkehrssymposium 2002, Bregenz 16.-19.6.02

Entwicklungsperspektiven des Logistiksystems Schiene unter dem Einfluss der EU-Verkehrspolitik

Prof. Heinrich Brändli, Institut für Verkehrsplanung, Transporttechnik, Strassen- und Eisenbahnbau (IVT), ETH Zürich
 
Es sollen mit diesem Beitrag Spannungsfelder zwischen Logistik(-systemen) und Eisenbahn (-unternehmen), aber auch zwischen EU- und schweizerischer Verkehrspolitik herausgeschält werden, um daraus Chancen und Risiken des "Logistiksystems Schiene" abzuleiten.

Bereits an dieser Stelle sei die Frage erlaubt, ob "die Schiene" als Logistiksystem aufgefasst werden kann oder ob vielmehr die (künftige) Rolle der Logistik im Transportsystem Eisenbahn anzupacken ist.

Bezüglich Verkehrspolitik reicht die Gegenüberstellung von EU und Schweiz zur Folgeabschätzung nicht, zählen doch die aus der Politik abgeleiteten konkreten Massnahmen der Umsetzung und hier insbesondere die Rahmenbedingungen des Verkehrs und der Verkehrswege(-aus-)bau weit mehr.

Erst aus dem Spannungsdreieck Logistik-Eisenbahn-Verkehrspolitik (-divergenzen) lassen sich Zukunftschancen und -risiken der Schiene - allerdings mit Unsicherheiten und Vorbehalten, im Sinne eines Fazits ableiten.


1. Logistik(-systeme)

Unter Logistik versteht sich die Lehre von Material-, Energie- und Produktionsflüssen innerhalb einer Betriebswirtschaft oder zwischen dieser und ihrer Umwelt.
 
Diese noch lange nicht umfassende Definition ist äusserst facettenreich und lässt sich als betriebswirtschaftliche Logistik umschreiben, welche unterteilt werden kann in sich teilweise überlappende Teilsysteme wie Marketing-, Material-, Beschaffungs-, Produktions-, Distributions- und Entsorgungslogistik. Daraus wiederum lassen sich alle Vorgänge, welche bei der Ortsveränderung von Personen und in unserem Beispiel primär von materiellen Gütern anfallen, in das Teilsystem Transportlogistik zusammenfassen.

Somit ist "Logistik" vorerst mal eine typische, unabdingbare, die Grundfunktionen unterstützende Querschnittsfunktion jeder Unternehmung. Sie beinhaltet - noch immer am Beispiel des Industrieunternehmens - zahlreiche Konflikt- und damit auch Optimierungspotentiale, wobei wie überall das Optimum nur aufgrund quantifizierter bzw. quantifizierbarer Optimierungskriterien gefunden werden kann; z.B. der Kosten.

Ohne weiter in's Detail zu gehen, schälen sich im Zusammenhang mit unserem Symposium zwei zentrale Problemkreise heraus; beide lassen sich fokussieren auf die Grundsatzfrage nach der Systemabgrenzung des Denkens und Handelns.

Die betriebswirtschaftliche Logistik im institutionellen Sinne bezieht sich auf die Grundeinheit Unternehmung.
 
Unter Rückbesinnung auf die Definition von Logistik sind stets auch die Beziehungen zwischen der Betriebswirtschaft und deren Umwelt zu betrachten, was gerade im Zeichen des heutigen Welttrends zu Deregulierung und Privatisierung den Stellenwert uralter Tatsachen betont: Die allgemeine Schlussfolgerung lautet: Die beste System- oder hier Unternehmensabgrenzung muss auf grund sachlicher Erwägungen bzw. faktenbasierten Zielen erfolgen und kann nicht Mode- und Opportunitätsströmungen folgen.

Die betriebswirtschaftliche Logistik im funktionalen Bereich führt sofort zur Frage des Produktes "der Schiene", wie sie im vorgegebenen Titel des Referates erwähnt wird. Die Schiene selbst produziert offensichtlich gar nichts, sondern wandelt sich langsam um in Rost. Als charakteristische Bezeichnung des Systems Eisenbahn jedoch zeigt sich ein fundamentaler Unterschied zum bewusst eingangs erwähnten Beispiel des Industrieproduktionsbetriebes: Es werden weder Produkte neu geschaffen, noch physisch veredelt, sondern es werden Platz- und potentielle Nutzlastkilometer differenziert nach Relation, Zeitpunkt, Beförderungszeit und andern Qualitätsmassstäben als Dienstleistungsangebote bereitgestellt. Diese Dienstleistungen sind in der Produktion sehr komplex, zwingend verprogrammiert, "vor Ort" produziert, in keiner Weise lagerfähig und können funktionell mit Transportieren sowie vom Kunden gewünschtem Lagern (Güterverkehr) oder aber durch die Dienstleistungspalette aufgezwungenem Lagern bzw. Warten (Güter bzw. Personenverkehr) umschrieben werden.
 
Der Nutzen der Ortsveränderung liegt (mit wenigen Ausnahmen beim Personenverkehr) im Erreichen des Zielortes und kann durch "die Schiene" nicht gesteuert werden. Im Einflussbereich der Transportunternehmungen dagegen liegen die Widerstände der Ortsveränderung hinsichtlich Zeit, Kosten, Zuverlässigkeit etc.. Auch dazu zwei Feststellungen:
2. Funktionale Systemabgrenzung Schiene

Im technischen Bereich können wir uns auf vergangene Grosstaten abstützen, auf grund weit früheren Anfängen und auf die schweizerischen Regelungen bezogen die "Uebereinkunft vom 9.12.1923 über die internationale Rechtsordnung (Regime) der Eisenbahnen" sowie die "Verordnung betreffend Technische Einheit im Eisenbahnwesen vom 16.12.1938", welche Normen hinsichtlich Spurweite, Fahrzeugausrüstungen, Profile etc. enthält. Spätere technische Entwicklungen zeichnen sich dadurch aus, dass die Einheitlichkeit auf dem Altar grosser Staatsbahnen und nationaler Produzenten geopfert wurde. Insbesondere betrifft dies die Elektrifizierung sowie die Sicherungs- und Lenkungsanlagen, womit den europäischen Entwicklungen ETCS und dem übergeordnete ERTMS überragendes Gewicht zukommen. Ziel ist die technische Interoperabilität der europäischen Normalspurbahnen. Da das System Eisenbahn ein hochintegriertes System insbesondere bezüglich der Interaktionen Fahrbahn - Fahrzeug darstellt, ist aus Optik der Technik die einzig richtige Systemabgrenzung die integrierte, europäische Normalspurbahn. Aus Effizienzgründen bleibt auch eine erweiterte "Technische Einheit" bei den Meterspurbahnen erwünscht. Zudem ist beim System Schiene stets die Langlebigkeit der technischen Anlagen zu beachten, was unter Berücksichtigung der eben sehr starken Systemintegration zu einem sehr beschränkten Veränderungspotential pro Zeiteinheit führt.

Die betriebliche Betrachungsweise führt vorerst in dieselbe Richtung wie die Technik; muss aber noch weiter gehen z.B. zur Optimierung von Streckenkapazitäten, Netzverflechtungen, Zugdurch- und -umläufen oder generell Ressourcenmanagement unter Einschluss von (Betriebs-)Reserven und geplantem Netzunterhalt. Zudem ist (immer noch aus Effizienzgründen) der Strassentransport einzubeziehen, einerseits als Bahnersatz in betriebsschwachen Zeiten, insbesondere aber im Güterverkehr zur Sicherstellung der Haus-Haus-Transporte.

Die sachliche Systemabgrenzung ist somit das nach Spurweiten segmentierte System Eisenbahn unter Einbezug der Schnittstellenoptimierung zu LKW und Linienbus.

Schliesslich die verkehrliche Sicht: Hier stehen im Vordergrund die Marktwirksamkeit und somit die Kundenoptik im gebundenen Markt, ergänzt durch die Anforderungen der Leistungsbesteller oder "Aufgabenträger". Fakten: Die verkehrlich einzig richtige Systemabgrenzung ist das "Gesamtangebot öffentlicher Verkehr", eingebettet in den Gesamtverkehr und übergeordnete Systeme.

Aus dem Zusammenzug dieser Erwägungen ergibt sich erstens, dass die sinnvollen Systemab-grenzungen aufgabenspezifisch variieren und zweitens, dass bezüglich des heutigen Themas das "Gesamtsystem Schiene" etwa die kleinste zulässige Abgrenzung darstellt ....


3. Institutionelle Systemabgrenzung Schiene

Eine erste Einteilung führt zu den Produzenten von Dienstleistungen zur Ortsveränderung (hier einschränkend Bahnunternehmungen) und auf der anderen Seite zu den Leistungsbestellern (Aufgabenträger/Gebietskörperschaften, Dritte).

Letztere müssen aus langfristigen, weitsichtigen, sozialen, volkswirtschaftlichen Ueberlegungen Leistungen bestellen und teilweise bezahlen, zu deren Erbringung die betriebswirtschaftlich gewinnorientierte Verkehrsunternehmung nicht bereit bzw. nicht in der Lage ist.

Der Sachverstand der Dienstleistungsproduktion soll dabei sowohl bezüglich Effizienz als auch Marktwirksamkeit beim Verkehrsunternehmen liegen; die Beurteilung aus ganzheitlichen Ueberlegungen abgeleiteten notwendigen Leistungen bei den Bestellern. Zugunsten einer vermeintlichen Unabhängigkeit zwischen Be- und Erstellern ist zunehmend ein Sachverstandwettrüsten zu verfolgen, das letztlich meist effizienzmindernd und zeitraubend ist. Der sachlichen Kooperation der beiden Partnern ist der Vorzug zu geben, obwohl in diesem Fall sog. Diskriminierungsprobleme bei den geradezu euphorisch geforderten Leistungsaus-schreibungen auftreten können, aber auch zu bewältigen sind.

Dass dabei bestellte Leistungen stets als Teil des inner- und zwischenbetrieblichen "Verbundproduktes öffentlicher Verkehr" erbracht werden führt dazu, dass die theoretisch mathematisch "richtige" Kosten-/Ertragszuscheidung nicht bestimmbar ist. Somit sind quantifizierte Konventionen unabdingbar, folglich ebenso Kompromiss- und Konsensfähigkeit.

Auf der Ebene der Verkehrsunternehmungen zeigt sich aus der funktionalen Systembetrachtung, dass die unternehmerische Trennung in Eisenbahninfrastruktur- und Eisenbahnverkehrsunternehmung sachlich wenig Sinn macht und die Bekämpfung deren Nebenwirkungen (sektorielle Optimierung) schwerer wiegt als die Nebenwirkungen integrierter Unternehmungen im Bereich des diskriminierungsfreien "open access".

Als Ueberleitung zur Verkehrspolitik zeigt sich ein Spannungsfeld zwischen an sich gleichgerichteten Kräften. Die Zukunftsstrategie der Schiene stützt sich ab auf die politische Forderung nach Marktstärke der Schiene und open access sowie auf integrierte Bahnunternehmungen, welche


4. EU-/CH-Verkehrspolitik und deren Umsetzung

Die Politik lässt sich generell als bewusstes, gezieltes, geplantes Handeln definieren.

Dies gilt konsequenterweise auch für die Verkehrspolitik. Die verkehrspolitischen Ziele der EU, neustens gemäss Weissbuch vom 12.9.2001, sind verbal mit denjenigen der Schweiz weitgehend deckungsgleich. Das Weissbuch trägt nicht nur einen schönen bahnaffinen Titel, nämlich "die europäische Verkehrspolitik bis 2010: Weichenstellungen für die Zukunft" sondern stellt besagte Weichen auch zugunsten der Bahn mit dem klaren Ziel grösserer Marktanteile.

Bei der Umsetzung dagegen oder im Vergleich politischer Statements mit effektivem Handeln bestehen beachtliche Unterschiede. Die Gründe dazu liegen wohl einerseits im schwer definierbaren kleinsten gemeinsamen Nenner im ebenso grossen wie in jeder Beziehung komplexen EU-Raum, anderseits aber in der spezifischen Situation der kleinen Schweiz, welche sie zu Pioniertaten im Sinne der nachhaltigen Verkehrspolitik befähigt:

Straffe - aber politisch und verkehrlich heikle - topografische Gliederung mit den in vielfacher Hinsicht eher schwachen Jurahöhen im Nordwesten an der Grenze zu Frankreich; südlich anschliessend das relativ flache Mittelland, wo wirtschaftlich und bevölkerungsmässig "die Schweiz stattfindet". Im Süden schliesslich das Herzstück des Alpenbogens mit sehr starker Position im Tourismus. Letztere ist zunehmend gefährdet einerseits durch den Transitverkehr; anderseits und vor allem durch die Klimaerwärmung mit Winterstürmen, Abschmelzen der Gletscher, sinkender Schneesicherheit, Erhöhung der Permafrostgrenze sowie Schwächung der zahllosen Schutzwälder für Siedlungen und Verkehrswege. Daraus resultierten

Das Massnahmenpaket der Schweiz
 
1982 Integraler Taktfahrplan Schweiz
1987 Positive Volksabstimmung "Bahn 2000"
1992 Positive Volksabstimmung "NEAT"
1992 Transitabkommen EWG - Schweiz
1994 Positive Volksabstimmung "Alpenschutzartikel" in die Bundesverfassung
1998 Positive Volksabstimmung "Finanzierung öffentlicher Verkehr"
1998 Positive Volksabstimmung "Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe"
1999 Abschluss bilaterale Verträge EU - Schweiz v.a. Landverkehrsabkommen
1999 Inkrafttreten Bahnreform 1
2001 Inkrafttreten
- LSVA
- Verkehrsverlagerungsgesetz
2002 Inkrafttreten bilaterale Verträge (1.6.)

 
Hervorzuheben ist, dass das Paket durch direkten Druck des Volkes massgebend mitgeprägt ist. Insbesondere gilt dies für den "Alpenschutzartikel" in der Bundesverfassung (!), welcher aufgrund einer Volksinitiative gegen Regierung und Parlament angenommen wurde und leistungssteigernde Massnahmen für Strassen über bzw. durch die Alpen untersagt. Er wurde konsequenterweise zu einer tragenden Säule bei den Verhandlungen über das Landverkehrsabkommen...

Dieses per 1.6.02 rechtswirksame Landverkehrsabkommen als Teil der bilateralen Verträge stellt einen Kompromiss dar, der der Schweiz finanziell teuer zu stehen kommt, aber einen bedeutsamen Schritt zu einer nachhaltigen und eisenbahnfördernden Verkehrspolitik darstellt. Der erzwungenen produktivitätsfördernden Erhöhung des maximalen LKW-Gewichtes auf vorläufig 34, ab 2005 40 Tonnen steht die kostentreibende leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe (LSVA) gegenüber, deren Sätze - wenn auch gegenüber den schweizerischen Vorstellungen nach unten gedrückt - wesentliche Anreizsysteme enthalten.

Trotzdem muss die Schweiz nun bis zur Eröffnung der Eisenbahnalpentransversalen (2006 Lötschberg, ca. 2013 Gotthard) Milliardenbeträge aufwenden, um das Ziel der Verlagerung des Güterverkehrs auf die Bahn zwischenzeitlich konsequent weiter zu verfolgen.

Als Schlussfolgerung aus dieser Gegenüberstellung EU - CH ergibt sich, dass die Chancen der Schiene politisch generell gegeben sind, faktisch in der Schweiz zumindest im Binnenverkehr zufolge der in die richtige Richtung laufenden Umsetzungsprozesse besser scheinen. Dies nicht nur wegen den relativ konsistenten Rahmenbedingungen zumindest im Güterverkehr, sondern auch der Realisierung eines ebenso konsistenten Paketes von Grossprojekten. Bis zur Inbetriebnahme der erstens neuen Alpentransversalen steht die Schweiz allerdings vor einer kritischen und teuren Durststrecke.


5. Theorie und Fakten; Fazit

Erstens stellt sich heraus, dass sektorielles Disziplinendenken in der heilen Theorie sowie die Unterwerfung vor politischen und wirtschaftlichen Modeströmungen nicht zum Ziele führen. Zweitens sind in interdisziplinärer Zusammenarbeit echte von vermeintlichen Sachzwängen zu trennen; die echten anzuerkennen und die vermeintlichen hinsichtlich Handlungsspielbreiten auszuloten. Drittens gilt es insbesondere alle neuen Verordnungen, Richtlinien etc. nicht nur auf die (theoretischen) positiven Wirkungen, sondern auch auf allfällige oft negative faktische Nebenwirkungen zu prüfen und weitmöglichst mit Anreizen für das zielgerechte Verhalten der Akteure anzureichern.
 
Zum "Logistiksystem Schiene": Damit abschliessend zurück zur Titelfrage: Die Schiene muss eine Zukunft haben, um die Mobilitätsbedürfnisse vor allem in Verdichtungsräumen zu befriedigen. Fragt sich, auf welchem Qualitätsniveau; denn unsere Gesellschaft braucht heute und in Zukunft ein Verkehrssystem hoher Qualität mit einem primär aus Raumgründen hohen Anteil an öffentlichem Verkehr. Dies kann nur über entsprechende, konkrete Rahmenbedingungen des Verkehrs erreicht werden.

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