ÖVG Spezial Band 47
Rechtsgutachten Semmering-Basistunnel
Neue Rechtslage nach dem Niederösterr. Naturschutzgesetz 2000 (NÖ
NSchG 2000)
Walter Barfuß, Christian Schmelz, Katharina Huber
Wien 2000
INHALTSVERZEICHNIS
ZUSAMMENFASSUNG (diese finden Sie weiter unten nach dem
Inhaltsverzeichnis)
l. AUSGANGSLAGE
A. Situation bis 31.8.2000
B. Situation seit 1.9.2000
II. RECHTSFRAGEN
III. ANWENDBARKEIT DES NÖ NSCHG 2000
A. Allgemeines
B. § 7 NÖ NSchG 2000 - Bewilligungspflicht für Maßnahmen
außerhalb des Ortsbereichs
1. Allgemeines
2. Bewilligungspflicht für Bauwerke (Abs 1 Z 1)
3. Bewilligungspflicht für Abgrabungen bzw Anschüttungen (Abs
1 Z 4)
4. Zwischenergebnis zu § 7 NÖ NSchG 2000
C. § 8 NÖ NSchG 2000 - Bewilligungspflicht für Maßnahmen
im Landschaftsschutzgebiet
D. § 10 NÖ NSchG 2000 - Bewilligungspflicht für Projekte,
die ein Europaschutzgebiet erheblich beeinträchtigen könnten
1. Bewilligungspflicht nach § 10 Abs l NÖ NSchG 2000
2. Naturverträglichkeitsprüfung nach § 38 Abs 6 NÖ
NSchG 2000
IV. DIE BEREICHE ZULÄSSIGER BAUMASSNAHMEN
A. Baumaßnahmen außerhalb der Ortsbereiche
B. Baumaßnahmen im Landschaftsschutzgebiet
C. Baumaßnahmen im Bereich des gemeldeten Schutzgebiets "nordöstliche
Randalpen: Hohe Wand-Schneeberg-Rax"
V. VERFASSUNGSRECHTLICHE BEDENKEN
VI. EUROPARECHTLICHE FRAGEN
A. Zur europarechtlichen Erforderlichkeit des § 38 Abs 6 NÖ
NSchG 2000
B. Der Semmering-Basistunnel als Teil der transeuropäischen Netze
(TEN)
VII. KONSEQUENZEN FÜR DAS LAUFENDE NATURSCHUTZRECHTLICHE
VERFAHREN - ZURÜCKZIEHEN DES ANTRAGS?
VIII. ZUM VERGLEICH: NATURSCHUTZRECHTLICHE BEWILLIGUNG FÜR
DEN STRASSENTUNNEL
IX. SCHLUSSFOLGERUNGEN
ZUSAMMENFASSUNG
Vorgeschichte
Die Vorgeschichte der naturschutzrechtlichen Verfahren für den Semmering-Basistunnel
war bereits mehrfach Gegenstand rechtlicher Untersuchungen und höchstgerichtlicher
Entscheidungen. In ungewöhnlich deutlicher Weise wurde dabei die
Rechtswidrigkeit der bisherigen Vorgangsweise der NÖ Naturschutzbehörden
herausgestrichen.
Die naturschutzrechtliche Situation zum 31.8.2000 war im wesentlichen
folgende: Für den Projektteil I war die HL-AG schon im Hinblick auf
die Versäumung der Untersagungsfrist zur Ausführung des Vorhabens
berechtigt. Gegenstand des anhängigen naturschutzrechtlichen Verfahrens
war (und ist derzeit) nur noch der Projektteil II (Anlagen im Landschaftsschutzgebiet
Rax-Schneeberg von km 76,963 KG-Grenze Gloggnitz/Eichberg bis km 93,673
Landesgrenze NÖ/Stmk). Hinsicht-lich des Projektteils II war schon
mangels Verwirklichung des Merkmals "Grünland" kein Raum
für die Anwendung des § 5 NÖ NSchG (Anzeigepflicht für
Maßnahmen im Grünland). Somit bestand - allenfalls - nur eine
Bewilligungspflicht nach § 6 NÖ NSchG (Bewilligungspflicht für
Maßnahmen im Landschaftsschutzgebiet). Unter diese Bewilligungspflicht
fielen nur an der Erdoberfläche gelegene Baulichkeiten sowie jene
unterirdisch gelegenen Teile der Eisenbahnanlage, bei denen ein "Auswirkungsbezug"
auf geschützte Güter innerhalb des zum Land-schaftsschutzgebiet
erklärten Teils der Erdoberfläche besteht. Das insoweit sachlich
und räumlich eingeschränkte naturschutzrechtliche Bewilligungsverfahren
ist derzeit infolge Säumnis der NÖ LReg beim VwGH anhängig;
die der NÖ LReg zur Bescheiderlassung gesetzte Nachfrist ist derzeit
offen.
NÖ NSchG 2000
Im Zusammenhang mit dem Semmering-Basistunnel gab es während der
laufenden Verfahren bereits bisher zwei Änderungen des maßgeblichen
NÖ Naturschutzgesetzes. Nun erfolgte die dritte Gesetzesänderung:
Der NÖ Landtag hat am 29.6.2000 das NÖ NSchG 2000 beschlossen.
Gegen den Gesetzesbeschluß des NÖ Landtags hat die Bundesregierung
trotz der verfassungsrechtlichen Bedenken wegen der Gegenstimme von BMI
Strasser keinen Einspruch erhoben. Das NÖ NSchG 2000 wurde am 31.8.2000
im LGB1 kundgemacht und ist am 1.9.2000 in Kraft getreten.
Nach dem neuen NÖ NSchG 2000 treten an die Stelle einer potentiellen
(im konkreten Fall bereits erfüllten) Anzeigepflicht (§ 5 NÖ
NSchG alt "Grünland") und einer potentiellen Bewilligungspflicht
(§ 6 NÖ NSchG alt "Landschaftsschutzgebiet") nunmehr
potentiell drei kumulative Bewilligungspflichten:
• § 7 NÖ NSchG 2000 für Maßnahmen "außerhalb
des Ortsbereichs",
• § 8 NÖ NSchG 2000 für Maßnahmen im Landschaftsschutzgebiet
und
• § 10 NÖ NSchG 2000 für Projekte, die ein nach Natura
2000 unter Schutz gestelltes Gebiet erheblich beeinträchtigen könnten
(vor der Gebietsausweisung mittels Verordnung: Naturverträglichkeitsprüfung
nach § 38 Abs 6 NÖ NSchG 2000).
Die inhaltlichen Anforderungen wurden dabei teils erheblich verschärft.
Insgesamt vermitteln die Änderungen dem außenstehenden Betrachter
vielfach den Eindruck, daß die Neuregelungen das Ziel verfolgen,
Projekte wie den Semmering-Basistunnel massiv zu erschweren, wenn nicht
zu verhindern. Dabei ist auch in Betracht zu ziehen, daß ein verfassungswidriges
(aber bis zu seiner Aufhebung durch den VfGH von den Behörden anzuwendendes)
Gesetz die Durchsetzung amtshaftungsrechtlicher Ansprüche erschwert.
Auch die "Verfahrenstechnik" wurde teils wesentlich erschwert.
So hat der Antragsteller anders als bisher bereits im Bewilligungsantrag
die Zustimmung der Grundeigentümer glaubhaft zu machen. Sofern nicht
die Zustimmung sämtlicher Liegenschaftseigentümer vorliegt -
was bei Infrastrukturprojekten der vorliegenden Art naturgemäß
kaum je der Fall sein kann - müssen allfällig erforderliche
Enteignungsverfahren bereits vor der naturschutzrechtlichen Antragstellung
durchgeführt werden.
Bewilligungspflichtige und bewilligungsfreie Maßnahmen
Die teils neu formulierten, teils überhaupt neuen Tatbestände
des NÖ NSchG 2000 sind - ob beabsichtigt oder nicht - in wesentlichen
Punkten unklar. Sie eröffnen damit ganz erheblichen Auslegungsspielraum.
Mitunter scheint der Gesetzgeber das Gegenteil dessen normiert zu haben,
was er vermutlich normieren wollte.
Je nachdem, wie man die Auslegungsspielräume nützt, unterliegen
weite oder nur kleine Teile des Projekts Semmering-Basistunnel einer naturschutzrechtlichen
Bewilligungspflicht. Nach der unseres Erachtens zutreffenden Auslegung
ist im we-sentlichen bloß folgender Bewilligungstatbestand zu prüfen:
Anschüttungen und Abgrabungen außerhalb von Ortsbereichen sowie
im Land-schaftsschutzgebiet über eine Fläche von mehr als 1000
m2, durch die das bisherige Niveau um mehr als 1 m geändert wird.
Eine Bewilligungspflicht für "Bauwerke" außerhalb
von Ortsbereichen sowie im Landschaftsschutzgebiet besteht unseres Erachtens
nach dem Wortlaut des § 7 Abs l Z l NÖ NSchG 2000 nicht, weil
der Semmering-Basistunnel unbestreitbar nicht ein Bauwerk von sachlich
untergeordneter Bedeutung ist.
Soweit der Semmering-Basistunnel nicht projektgemäß (als Folge
über- oder unterirdischer Maßnahmen) die Beseitigung besonders
landschaftsprägender Elemente im Landschaftsschutzgebiet nach sich
zieht, besteht auch insofern keine Bewilligungspflicht.
Eine Bewilligungspflicht nach dem neuen § 10 NÖ NSchG 2000 besteht
nicht, weil das Land NÖ die "Europaschutzgebiete" noch
nicht im dafür vorgesehenen Verfahren mit Verordnung ausgewiesen
hat.
Ob im vorliegenden Fall die Voraussetzungen für eine "Naturverträglichkeitsprüfung"
nach der Übergangsbestimmung des § 38 Abs 6 NÖ NSchG 2000
gegeben sind, ist zweifelhaft. Nach den vorliegenden Informationen ist
es fraglich, ob der Semmering-Basistunnel tatsächlich zu einer Gefährdung
des Schutzzwecks des als Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung und als
Vogelschutzgebiet an die Europäische Kommission gemeldeten Gebiets
führen könnte. Eine erhebliche Beeinträchtigung kann nämlich
nur dann angenommen werden, wenn der Erhaltungszustand der in der Schutzgebietsmeldung
angeführten natürlichen Lebensräume und Arten durch den
Tunnel langfristig erheblich beeinträchtigt würde.
Vor allem aber: § 38 Abs 6 NÖ NSchG 2000 normiert unseres Erachtens
keine Bewilligungspflicht, sondern lediglich eine amtswegig durchzuführende
Naturverträglichkeitsprüfüng. Dies folgt aus der Interpretation
der in hohem Maße unbestimmten Regelung selbst sowie aus verfassungsrechtlichen
Überlegungen. § 38 Abs 6 NÖ NSchG 2000 würde demnach
einer raschen Verwirklichung des Projekts nicht entgegenstehen.
Ein Zurückziehen des gern § 6 NÖ NSchG (alt) gestellten
Bewilligungsantrags für das nun nach dem NÖ NSchG 2000 fortzusetzende
Verfahren (§38 Abs 7 NÖ NSchG 2000) ist aus unserer Sicht nicht
zu empfehlen, weil nach wie vor Bewilligungspflichten bestehen.
Im Zusammenhang mit den Bewilligungsverfahren stechen die unterschiedliche
Vorgangsweise der Behörden und die Unterschiede bei der naturschutzfachlichen
Bewertung zwischen Straßentunnel einerseits und Eisenbahntunnel
andererseits ins Auge.
Verfassungswidrigkeit des Gesetzes
§ 38 Abs 6 NÖ NSchG 2000 begegnet mehrfach schwerwiegenden verfassungsrechtlichen
Bedenken.
• Die von dieser Bestimmung erfaßten, der EU-Kommission gemeldeten
Gebiete sind nicht in einer den rechtsstaatlichen Erfordernissen entsprechenden
Form bekanntgemacht. Es widerspricht dem Legalitätsprinzip und dem
rechtsstaatlichen Prinzip, an eine formlose, behördeninteme, nicht
in geeigneter Form kundgemachte Gebietsmeldung Rechtswirkungen zu knüpfen.
Sofern man annehmen wollte, § 38 Abs 6 NÖ NSchG 2000 normiere
eine Bewilligungspflicht - woran sich eine Vielzahl einschneidender Ge-
und Verbote knüpft -, müßte die Regelung des örtlichen
Anwendungsbereichs dieser Be-stimmung (dh die Festlegung der "gemeldeten"
Gebiete) in der Rechtsform einer Verordnung erfolgen. Diese müßte
entsprechend Lehre und Rechtsprechung gehörig kundgemacht werden.
Bis zur Kundmachung einer solchen Verordnung wäre § 38 Abs 6
NÖ NSchG 2000 ohne örtlichen, damit auch ohne sachlichen Anwendungsbereich.
• Der Schutzzweck der gemeldeten Gebiete ist nicht bekannt. Ohne
Kenntnis des Schutzzwecks fehlt jeder Beurteilungsmaßstab.
• Die Naturverträglichkeitsprüfung ist gern § 38
Abs 6 NÖ NSchG 2000 nur auf Antrag der - weisungsgebundenen - NÖ
Umweltanwaltschaft durchzurühren, ein solcher Antrag steht aber im
Belieben der NÖ Umweltanwaltschaft. Die Voraussetzungen, unter denen
ein solcher Antrag zu stellen ist, werden nicht normiert. Wieder ergibt
sich ein Widerspruch zum Legalitätsprinzip.
• Völlig undeterminiert ist die Frage, ab wann und bis wann
die NÖ Umweltan-waltschaft einen Antrag auf Durchführung der
Naturverträglichkeitsprüfung stellen darf. Projektwerber laufen
Gefahr, allenfalls hohe Investitionen zu täti-gen, um dann (auf welchem
Weg immer) zu erfahren, daß die NÖ Umweltanwaltschaft vielleicht
doch - irgendwann - einen Antrag auf Durchführung der Naturverträglichkeitsprüfung
gestellt hat.
• Der Begriff "Projekt" ist zu unbestimmt. Was ist im
- bloß intendierten - sachlichen Anwendungsbereich ein "Projekt"?
• Verfassungsrechtlich bedenklich ist auch der Umstand, daß
nicht der Projekt-werber, sondern die Umweltanwaltschaft zur Antragstellung
legitimiertest. Dies nimmt dem Projektwerber jede Rechtssicherheit. Überdies
wird die NO Um-weltanwaltschaft vielfach gar nicht über die für
eine Antragstellung erforderlichen Unterlagen und Informationen verrügen.
All das ist sach- und verfassungswidrig.
Bei verfassungskonformer Interpretation ist daher davon auszugehen, daß
§ 38 Abs 6 NÖ NSchG 2000 keine Bewilligungspflicht normiert,
sondern lediglich eine amtswegig durchzuführende Naturverträglichkeitsprüfung.
Dies ergibt sich, wie gesagt, auch schon aus dem Gesetzeswortlaut.
Europarechtliche Betrachtung
Aus europarechtlicher Sicht ist hervorzuheben, daß die Bestimmung
des § 38 Abs 6 NÖ NSchG 2000 in der vorliegenden Form europarechtlich
nicht erforderlich ist.
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